Kasuistik zum fallorientierten Lernen
Alarmmeldung an die Rettungsleitstelle: „Säugling atmet nicht”. Bei Eintreffen des
Notarztes ist das Kind tief zyanotisch ohne Eigenatmung. Das EKG zeigt eine bradykarde
Herzaktion mit deformierten Kammerkomplexen. Durch Intubation, Beatmung mit 100 %
Sauerstoff und endotrachealer Adrenalingabe stellt sich rasch wieder ein Spontankreislauf
ein.
Anamnestisch ist zu erfahren, dass es sich um das erste Kind der Eltern handelt, Schwangerschaft
und Geburt seien unauffällig gewesen, ebenso die weitere Entwicklung des Kindes. Seit
einigen Tagen habe es Schnupfen und aktuell mehrmals erbrochen. Der Vater habe das
Kind von der Großmutter abgeholt. Schon im Auto sei ihm aufgefallen, dass es eigenartig
geatmet habe. Zu Hause habe er dann noch versucht, ein Fläschchen zu füttern, daraufhin
habe das Kind die Atmung vollständig eingestellt. Er habe unmittelbar den Notarzt
angefordert, eine Laienreanimation wurde nicht vorgenommen. Das Kind wird in eine
nahegelegene pädiatrische Abteilung verbracht. Es zeigt im weiteren Verlauf keine
Spontanmotorik, die ausgeprägte metabolische Azidose ist spontan rückläufig, das Routinelabor
ist im Übrigen unauffällig. Das Kind wird zur Abklärung eines Stoffwechseldefektes
in ein Zentrum der Maximalversorgung verlegt.
Der Säugling verbleibt tief komatös, die Hirnstammreflexe sind erhalten, das zur weiteren
Abklärung durchgeführte kraniale Computertomogramm zeigt ein ausgeprägtes Hirnödem
sowie Zeichen einer subduralen Blutung. Das Röntgenbild des Thorax zeigt multiple
Rippenfrakturen unterschiedlichen Alters. Bei genauer Inspektion des Kindes finden
sich keine äußeren Verletzungszeichen ([Abb. 9]). Am Folgetag wird eine Untersuchung des Augenhintergrundes veranlasst, bei der
ausgedehnte retinale Einblutungen dokumentiert werden können. Im weiteren Verlauf
wird dann die radiologische Diagnostik vervollständigt, um mögliche weitere Frakturen
nachzuweisen. An den Extremitäten sind multiple metaphysäre Absprengungen erkennbar.
Das Kind bleibt kardio-pulmonal stabil und kann bei erhaltenen Schutzreflexen rasch
extubiert werden. Die neurologische Situation bessert sich allerdings nicht, das Kind
verbleibt letztlich in einem vegetativen Zustand. Die bildgebende Diagnostik im Verlauf
zeigt die ausgeprägte Hirnschädigung ([Abb. 3]
[3 b]
[3 c]
[3 d]
).
Abb. 9 Zwei Monate alter Säugling nach schwerem Schütteltrauma ohne äußere Verletzungszeichen.
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Prof. Dr. H. Schiffmann
Zentrum für Neugeborene, Kinder und Jugendliche Klinikum Nürnberg
Breslauerstraße 201
90471 Nürnberg
Email: holger.schiffmann@klinikum-nuernberg.de